Page 65 - KANADA Magazin
P. 65

BRITISH COLUMBIA
 Klingeling ertönen lassen. „Bären fressen Beeren,   Wie jetzt? Es hieß doch, der Trail sei ein „Killer“,
 nicht Menschen“, kommentiert Danny den Weih-  ein Jakobsweg ausschließlich für harte Kerle.
 nachtsschmuck lakonisch. Aber der Ordnung hal-  Danny erzählt, dass bei seinen Gruppentouren der
 ber erklärt er trotzdem, was bei einem Rendezvous   Frauenanteil sogar überwiege. Viele hätten den
 mit der Großfauna zu tun sei: „Bei Begegnung mit   Film „Wild“ gesehen, in dem Reese Witherspoon
 Puma oder Wolf: in die Augen blicken, Wander-  als blutige Trekking-Anfängerin 1.600 Kilometer
 Man muss von   stock schwingen und sich groß machen. Bei einem   auf dem Pacific Crest Trail wandert.
 dem in der   Tête-à-Tête mit Schwarzbären: all das auf keinen   Fertig machen zum Anlanden! Es gibt keinen
 Dünung schau­  Fall tun, sondern Ruhe bewahren und sich langsam   Steg, sondern man muss von der Nase des in der
 kelnden Boot   davonschleichen. Im Notfall: kämpfen!“   Dünung schaukelnden Bootes einen sehr beherzten
 einen beherzten   it dem Wassertaxi geht’s zum „Trail Head“   Schritt ans Steilufer machen, wo schlüpfriger Kelp
 und nasse Felsen eine ungute Melange bilden. Das
 Schritt ans Steil­  M  in der Shushartie Bay. Ab sofort steht WWW   wäre noch okay, doch es müssen ja noch die Mons-
 ufer machen.  nicht mehr für World Wide Web, sondern für Wel-  terrucksäcke auf den Rücken – sie bringen die
 len, Wälder und Wale. Skipper George erzählt, dass   Trekker zum Taumeln. Als George wieder ablegt,
 sich hier oben früher ein Handelsposten der Hud-  trennen 75 Kilometer die Wanderer von der nächs-
 son Bay Company befand. Weil die First Nations   ten menschlichen Siedlung. Ein Gefühl von Frei-  Suchbild mit zwei Menschen:  gigantische
 beim Fellhandel lästige Konkurrenten waren, wur-  heit strömt in Kopf und Lungen.  Baumteile am Strand (oben).
 den sie von den Briten niedergemetzelt.                            Mit einer Art Gondel zieht man sich an
 Dann konzentriert sich George wieder auf das   um Glück hatte Danny nicht verraten,   einem Drahtseil ans andere   Flussufer
 Navigieren, denn dichter Nebel wabert über dem  Z  dass der erste Wandertag gleich der här-  (links).
 Wasser, die kalte Meeresströmung sorgt dafür.   teste  sein  würde. Monströse  Baumstämme,
 Sirenen warnen vor Untiefen. Sie klingen wie See-  die quer über dem Weg liegen, sind zu über-  lich einfach. Tief tauchen alle ein in den Kosmos
 ungeheuer. Wie Wesen aus Frank Schätzings Welt-  klettern. Die kleine Gruppe zieht sich an   der Wale, Lachse, Adler, Möwen, Wölfe und Bären.
 erfolg „Der Schwarm“, der teilweise auf Vancouver   Hanfseilen mühsam senkrechte Böschungen   Abwechslung bietet heute ein „Cable Car“, eine
 Island spielt. Wer hier oben unterwegs ist, glaubt   hinauf. Doch meistens genießt sie den Matsch-  Art Gondel, in der man sich an einem Drahtseil
 gern, dass der Ozean und seine Bewohner – des   marsch durch den Zauberwald; bewundert die    Die Brandung     Die erste Zeltnacht. Alle schlafen schlecht. Zu   auf die andere Seite des Flusses zieht, ganz ohne
 Plastikmülls und der Ausbeutung überdrüssig –   50 Shades of Green, die rechts und links in Hülle   des Meeres   laut das Meer. Die Brandung schlägt einen guten   nasse Füße zu bekommen. Dann spuckt der Wald
 irgendwann zurückschlagen.   und Fülle wuchern; staunt über Riesenfarne und   Meter hoch und macht einen Höllenlärm. Alle paar   die  Trekker  wieder  in  einer  Bucht  aus,  bewacht
 Mit an Bord sind fünf für diese Tageszeit   Büsche, die wild entschlossen scheinen, die kleine   schlägt einen   Sekunden kracht eine Welle auf den harten Sand   von  einem  Felsen,  auf  dem  nichts  wächst  außer
 Angeschwemmte Fender
 und anderes Treibgut   schrecklich gut gelaunte ältere Damen. Ein Tages-  Schneise  zurückzuerobern,  die  Parkranger  im   guten Meter   und das Treibholz, das überall am Ufer liegt.   einer einzigen Sitka-Fichte, die sich an allem fest-
 weisen den Weg.  ausflug? Nein, sie wollen auch den NCT „machen“.   Winter für die Wanderer geschlagen haben.   hoch und kracht   Kein Regen, auch am zweiten Tag – was für ein   krallt, dessen ihre Wurzeln habhaft werden kön-
           donnernd auf das    Glück! Der Trail führt jetzt am Strand entlang, die   nen. Wie eine futuristische Skulptur ragt sie in den
                               Wanderer machen zügig Strecke. Auch die Zeit
                                                                         bleichen Himmel.
                 Treibgut.     sitzt nicht im Nacken, denn es ist Niedrigwasser.
                               Danny muss nicht auf Engpässe achten, die sich   ann wird es anstrengend. Der Sand boden-
                               nur bei gewissen Tidenständen passieren lassen.  D  los, die kindskopfgroßen Steine rutschig und
                               Am Nachmittag kämpft sich sogar die Sonne durch   wackelig. Jeder Schritt lässt die Backpacker einsin-
                               die Nebelbänke. Im Camp angekommen, tauschen   ken. Es fühlt sich an, als ginge man im Tiefschnee.
                               alle ihre Trekkingschuhe gegen Flip-Flops, gehen   Dazu hängt der Nebel wie ein schweres, nasses
                               sogar schwimmen. Kanada fühlt sich plötzlich wie   Tuch über der Küste. Draußen branden die Wel-
                               Italien an. Passend zu Bella Italia serviert Danny   len ungestört gegen die vorgelagerten Inselchen
                               Penne mit getrockneten Tomaten und Parmesan.   und lecken hungrig über den Saum des Strandes.
                               Den Rotwein denkt man sich dazu.            Am nächsten Morgen stapfen die Trekker etwas
                                                                         nachdenklich durch den Nebelwald. Danny hat
                                    n Tag drei weicht die anfängliche Anspan-  ihnen erzählt, wie entbehrungsreich das Leben der
                               A  nung einer wohltuenden Routine und Ruhe.   frühen Siedler war: Moskitos und Krankheiten,
                               Die Orientierung ist einfach: Angeschwemmte   Schlamm und Kälte, wilde Tiere. Sie mussten
                               Bojen, aufgeknüpft an Ästen, weisen den Weg.   nicht nur ein Sechs-Tage-Trekking überstehen,
                               Das Meer ist Dusche und Badezimmer. Jeder weiß,   sondern sommers wie winters hier überleben.
                               was zu tun ist: Essen aus dem „Food Cache“ holen,   Garantiert ohne Hightech-Wanderstiefel und
                               einer bärensicheren Metallbox, die es in jedem   Funktions jacken.
                               Camp gibt; Wasser zum Kochen bringen; Abwasch   Nur die grandiosen Darbietungen der Natur
                               in der Brandung. Abends Treibholz fürs Lagerfeuer   dürften sich über die Jahre wenig verändert haben.
                               sammeln – das Leben in der Wildnis, ganz ohne   Ein Weißkopfseeadler sitzt auf dem Wipfel einer
                               Smartphone und andere Ablenkungen, ist so herr-  Tanne und blickt grimmig auf den Pazifik. Ab

  64  KANADA  2022                                                                                    2022  KANADA  65
   60   61   62   63   64   65   66   67   68   69   70